Bei Schamanen
Von Prem Lelia de Haan

Rezension der SZ vom 26/27.10.1985

Die Sierra Madre ist eine der ältesten noch erhaltenen Heimaten uralter Kulturstämme. Einer dieser Stämme sind die Huichol-Indianer, (...) Die Begegnung der Schriftstellerin Prem Lelia de Haan mit diesen Indianern und ihren geistig-religiösen Führern, den Schamanen, geschah aus einem Bedürfnis heraus, das die Autorin selbst "Suche nach dem Unglaubhaften" nennt. Ihre Reise, auf der sie von ihrer vierjährigen Tochter begleitet wurde, dehnte sich zu einem monatelangen Aufenthalt aus, den eine Vielzahl zumeist dramatischer existentieller direkter Selbsterfahrungen prägten.
Die geschilderten Erlebnisse sind authentisch. Im Strudel der plötzlich über sie hereinbrechenden Erlebnisse erfährt die Autorin mit ihrer Tochter Lena die Grenzen ihrer selbst, die Grenzen unserer Zivilisation im Zusammensein mit einem Volk, für das solche Grenzen nie existiert haben und das sein Leben ganz auf den Einklang mit der Natur ausgerichtet hat. (...) Im Leben und Erleben der Autorin spielen plötzlich Werte eine Rolle, die es in unserer Gesellschaft kaum gibt. (...)
Bei den Huicholes stellte sich der Autorin zum Beispiel "Unhöflichkeit nicht mehr als das Gegenteil von Höflichkeit dar, sondern Höflichkeit als das Gegenteil von Bewusstheit, als erlernte Begrenzung des Selbst-Bewusstseins. Diese Menschen können gar nicht unhöflich sein, weil sie nie, wie wir, gelernt hatten höflich - nämlich zu anderen Menschen freundlicher als zu sich selbst zu sein."
Die Tochter der Autorin erweist sich in vielen Stellen als sinnlich-erfahrener als die Mutter selbst, (...) wird auf diese Weise immer wieder zu einem Maßstab für die Zivilisationsschädigungen der Erwachsenen. So ist das Buch auch ein Kaleidoskop all des Reichtums, den eine Mutter-Tochter-Beziehung entfalten kann, und der Bande, die sie zusammenhält.
v Allein durch ihre offene und ehrliche Schilderung erreicht die Autorin Authentizität und Individualität in der Sprache und eine Vielfalt im Inhalt, die den Leser emotional miterleben lässt. (...) "Die Huicholes sind keine primitiven Wilden, kein Rohmaterial, das der dringenden Bearbeitung der Mensch- und Weltverbesserer bedarf. Im Vergleich zu uns, den geschliffenen Diamanten in den Klauen der Zivilisation, sind sie Rohdiamanten am Busen der Natur. Was uns von ihnen unterscheidet, ist der Preis für den Schliff."
(Christian Seidel)